„Sitzen ist das neue Rauchen“ – das ist ein Schlagwort, das seit mehreren Jahren schon im Zusammenhang mit Gesundheitsthemen resp. Krankheiten und Krankmeldungen in Betrieben die Runde macht. Ehrlich gesagt, ich müßte sehr nachdenken, um in meinem persönlichen und beruflichen Umfeld noch RaucherInnen zu finden. Aber SitzerInnen? JEDE MENGE. Eigentlich alle. Und (fast) alle beklagen sich über Verspannungen, Nackensteife,  Schulterprobleme, Rückenschmerzen uvm. Eben alles, was unter den Begriff „muskulo-skeletale Erkrankungen“ fällt.  Und diese führten nach dem Report 2020 der Techniker Krankenkasse im Jahr 2019 zu  6,77 Millionen Ausfalltagen (nur Wirbelsäule + Rückenschmerzen bei TK-Versicherten). Das ist eine Menge und ganz sicher zuviel.

Natürlich ist der Mensch nicht für stundenlanges Stillsitzen gemacht. Die Natur hat sich das anders vorgestellt. Und so kommt er auf die Idee, dass Bewegung hilfreich sein könnte. Was vom Grundsatz her eine gute Idee ist. Nur: am Arbeitsplatz sitzen muß der Mensch trotzdem weiterhin.

Die Vorteile von – so nenne ich es mal – „externer“ Bewegung (extern, weil getrennt von der Arbeit) liegen auf der Hand: die Muskeln werden aktiviert, sie stärkt das Immunsystem und verbrennt Fett, sie lenkt ab – man bekommt einen anderen Fokus (Bewegung macht schlau & glücklich…), fordert den Kreislauf usw.

Die Nachteile laufen Gefahr, die Vorteile an Menge zu übertrumpfen – wenigstens, was die Umsetzung von Bewegung angeht: ich brauche Zeit AUSSERHALB meiner Arbeitszeit (wenn ich Treppensteigen oder die Mittagsrunde nicht mitzähle). Das kann ein weiterer Stressfaktor sein und im Zweifel ist die Fertigstellung der Präsentation wichtiger als die Bewegung. Ich brauche besonderes Equipment/Kleidung und/oder Räumlichkeiten wie ein Sportstudio. Ich brauche die Überwindung – oft ist der innere Schweinehund ein Riesentier J und kostet mehr Kraft als der ganze Sport. Und ein ganz besonderer Punkt, der aus meiner Sicht eine große Bedeutung hat: die Haltungsgewohnheiten, die mein Sitzen zu einem Risiko haben werden lassen, werden in den allermeisten Fällen durch die Bewegung nicht verändert. So viele Menschen joggen regelmäßig – und sitzen doch in überaus schlechter Haltung am Schreibtisch. Warum: weil ihre Arbeit im Mittelpunkt steht und sie ihre Körper „verlassen“, sobald sie am Schreibtisch sitzen. Waren sie beim Joggen (hoffentlich) noch in ihrer Körperwahrnehmung dabei, ist das Phantom „konzentriert arbeiten“ am Schreibtisch wie aus dem Nichts aufgetaucht und hat sie aus ihrem Körper geholt.

Das führt dann dazu, dass das, was ich die „interne“ Bewegung – oder besser Beweglichkeit – nennen will, sträflich vernachlässigt wird. Ruhig zu sitzen muss nicht bedeuten, sich zu verspannen.  Haben Sie schon einmal eine Katze vor dem Mauseloch beobachtet? Extrem aufmerksam, sehr lange sehr ruhig sitzend (bestimmt proportional viel länger als für eine Katze von der Natur gut), aber in keiner Weise verspannt – denn dann würde sie nie und nimmer losspringen können, wenn die Maus sich zeigt.

Aber wir – am Schreibtisch – konzentrieren uns auf das Mauseloch „Exceltabelle“ oder „Analyse von Prozessen“ oder was immer Ihre Arbeit ist und verspannen uns so sehr, dass jegliche innere Beweglichkeit (von Körper und Geist) gekillt wird. Und dann jammern wir über Verspannungen und die daraus entstehenden Einschränkungen unserer Lebensqualität. Nicht nur haben wir jetzt Schmerzen, nein, wir müssen auch zur Massage, Physio oder eben zum Sport…

Da wäre es doch eine feine Sache, wenn wir wieder zum Leben erwecken könnten, was die Natur an Beweglichkkeit als Grundzustand in uns eingebaut hat. Die Entdeckung dieser faszinierenden Tatsache machte Frederick M. Alexander (1869-1955) Ende des 19. Jahrhunderts – an sich selbst. Er war kein Schreibtischtäter, sondern Schauspieler und Rezitator und litt unter Stimmproblemen, die kein Arzt und keine Therapie beheben konnten. Er bemerkte, dass er ganz bestimmte Anspannungen im Hals-/Schulter- und Rückenbereich initierte, die zu negativem Einfluß auf seine Stimme führten und insgesamt zu Starrheit im ganzen Körper. Joggen als Ausgleich war noch nicht in Mode, deswegen begann er durch Selbstbeobachtung zu erforschen, was wohl zu den Problemen führen könnte. Und erschrocken mußte er feststellen, dass er durch seine Gewohnheit, diese Anspannungen zu initiieren, wann immer er den Wunsch hatte, einen Satz zu sprechen, sich in einer Negativspirale befand und scheinbar nicht herauszukommen war. Kennen Sie das: Sie wollen die Computermaus greifen und bevor Sie dran sind, ist die Schulter angespannt und Ellbogen, Unterarm und Finger gleich mit? Und Sie schaffen einfach nicht, dies abzustellen?

Alexander wandte einen Trick an, weil ihm klar war, dass er eine Veränderung nicht durch Übungen erreichen konnte – denn die würde er mit derselben Reaktion von Anspannungsgewohnheit ausführen wie sein Sprechen. Er nannte das übrigens den „Gebrauch des Selbst“, weil er überzeugt davon war, dass der Mensch ein ganzheitliches Wesen ist und als dieses agiert und nicht in physisch oder psychisch zu trennen ist. Sein Trick war, für einen kurzen Moment gar nicht zu reagieren (auf den Impuls, zu sprechen) und sich dabei der Möglichkeit einer gelösten, beweglichen Grundausrichtung des Körpers (und seiner Muskeln) bewußt zu werden. Für diese Grundausrichtung von Kopf/Hals/Oberkörper nutze er sowohl sein Denken (mentale Anweisungen) als auch seine Selbstwahrnehmung (Propriozeption). Sie führten ihn zu einer inneren Beweglichkeit, frei von übermäßiger und unangemessener Anspannung bzw. Muskelaufwand. Und siehe da, seine Stimmprobleme verschwanden und er machte eine tolle Karriere als Schauspieler – aber auch als Lehrer seines Vorgehens, das so vielen inzwischen geholfen hat. Nicht nur Schauspieler und anderen Künstlern. In den über 120 Jahren seit Alexanders Entdeckung hat sich auch die Forschung damit beschäftigt und einige Bestätigungen geliefert für seine Entdeckung unseres Funktionierens mit der eingebauten, natürlichen Beweglichkeit. Und hat die Wirkung seiner Arbeit auf z.B. Rückenschmerzen erforscht (s. Studie unten) – womit wir den Kreis geschlossen haben zu den Problemen von andauerndem Sitzen im Büro.

Was ist nun das Besondere daran – im Vergleich zu „externer“ Bewegung?

MitarbeiterInnen lernen hierbei eine Selbstverantwortung, die durch Neugier am Erforschen ihrer selbst, ihrer Gewohnheiten und Reaktionsmuster gefördert wird. Hals, Schultern, Arme und Rücken werden entlastet, Bewegungen leichter. Nicht nur Rückenschmerzen, auch Probleme wie RSI (repetitive strain injury, z.B. Mausarm) oder Spannungskopfschmerzen u.ä. können verschwinden. Die Körperhaltung verbessert sich wie von selbst – der Traum vieler Menschen – denn wir haben eine gelöste aufrechte Haltung von Natur aus eingebaut. Und da die äußere Haltung (Körperhaltung) mit unserer inneren Haltung (Mindset, Emotionen) korreliert, steigert sich zu allem Überfluß auch noch das Wohlbefinden des Menschen. Sie werden resilienter, gelassener und freundlicher zu sich selbst – und anderen J. Auf diese Weise von Überanstrengung befreit, hat unser Geist Freiraum für eine höhere Aufmerksamkeit und mehr Kreativität – z.B. beim Lösen von Aufgaben oder Problemen.

Der allergrößte Vorteil dieser „internen“ Bewegung sind zwei Punkte: erstens ist das Vorgehen auf der Basis von Alexanders Entdeckung, wenn man damit vertraut geworden ist, selbständig nutzbar. Und zwar JEDERZEIT. Weil es ein „Denken in der Aktivität“ ist (Zitat John Dewey, US-Philosoph & Pädagoge), denn es schult uns in der Beobachtung von „Wie gebrauche ich mich, wenn ich XYZ mache?“ und der Veränderung unserer ungünstigen Gewohnheiten. Zweitens passt es durch dieses „JEDERZEIT“ bestens in betriebliche Abläufe und wird z.B. seit langem bei den Firmen Victorinox sowie Siemens in der Schweiz angewendet.

Info: Studie zur Wirksamkeit von Alexander-Technik-Unterricht (AT), klassischer Massage und leichter sportlicher Bewegung bei Patienten mit chronischen bzw. rezidivierenden Rückenschmerzen, Prof. Paul Little et al, 2008 (BMJ)

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